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World of Warcraft:
Zehn auf einen Streich

Die meisten Spieler von „World Of Warcraft“ lassen sich Zeit, um die Erweiterung „Wrath Of The Lich King“ in vollen Zügen zu genießen. Und das ist gut so. Denn wer so schnell wie möglich von Level 70 auf Level 80 kommen will, kämpft nicht nur gegen Orks, Zwerge und die Uhr – sondern auch noch gegen sich selbst.

Dies ist die Geschichte vom Troll-Magier Candyman, benannt nach einem Lied von Sammy Davis Jr., nicht nach den Horrorfilmen. Der gute Candyman ist mein Avatar in „World Of Warcraft“, der erfolgreichsten virtuellen Welt der Welt. Mit ihm will ich in der neuen Spielerweiterung „Wrath Of The Lich King“ Level 80 erreichen – und zwar als erster überhaupt. Ich starte mit Level 70, so wie die meisten. Ich habe nichts anderes vor als zu spielen, so wie die meisten. Es ist ein Wettkampf ohne Wenn und Aber, der Lohn des Siegers ist ewiger Ruhm. Dies ist meine Geschichte.

* Level 70 *

Der „Lich King“ trudelt bereits ein paar Tage vor der Veröffentlichung bei mir ein. Während andere noch auf die Lieferung eines Internetversands warten oder sich die Köpfe beim Nachtverkauf einschlagen, betrete ich am Donnerstag, den 17. November, um Punkt Mitternacht den neuen Kontinent Nordend. Eine Schar ebenso Privilegierter hat sich hier im Startgebiet versammelt, dem Hafen der Vergeltung. Einige davon hüpfen ungeduldig herum. „Wie viele Tage veranschlagt ihr für Level 80?“, fragte ein Druide in die Runde. „So wenig wie möglich, ich will der Erste sein“, antworte ich.

Fünfzehn Sekunden vergehen, in denen die Anwesenden einen verächtlichen Blick auf meine bescheidene Ausrüstung zu werfen scheinen. „ROFL“ hallt es über den Bildschirm. Ich muss zugeben: Ich bin ein wenig angespannt. Denn im Vergleich zu den martialischen Orks, Tauren und Untoten um ihn herum wirkt Candyman wie ein Greis, der seinen Gehwagen vergessen hat. Zudem sind zehn Level kein Pappenstiel. Zehn Level: Das sind mehr als 16 Millionen Erfahrungspunkte, die ich sammeln muss. Als Anzeige dient mir ein schmaler, horizontaler Statusbalken, der in 20 Abschnitte unterteilt ist und sich langsam mit Farbe füllt wie ein altes Quecksilberthermometer. Das Töten eines Monsters wird mit etwa 1000 Punkten belohnt – muss ich mehr sagen? Um 00.15 Uhr gieße ich mir frischen Kaffee ein und begebe mich ans Werk. Goldene Ausrufezeichen über den Köpfen grünhäutiger Gestalten weisen mich auf Aufträge hin, die ich annehmen kann. Im Rollenspieljargon heißen sie Quests. Ich lasse mich auf einige ein. Oberflächlich lese ich mir die Aufgabenstellung durch, dann gebe ich meinem Reitdinosaurier die Sporen. In den kommenden Stunden füttere ich einen Hund mit Krähenfleisch, sammle in einem Schiffswrack Behälter mit Seuchenflüssigkeit und verbrenne Leichen von gefallenen Kriegern.

Ich bin erleichtert, als ich nach getaner Arbeit 20.000 Erfahrungspunkte pro fertiger Quest absahne. So soll es weitergehen. Und so geht es weiter: Auf einer Fledermaus reitend werfe ich Giftbomben auf seekranke Matrosen und töte anschließend 15 ihrer Kameraden. Doch das Quecksilber kriecht nur langsam voran. Noch hat keiner der Spieler auf dem Server den Levelsprung geschafft, aber ich muss mich sputen. Weiter geht’s nach Quälheim. Dort massakriere ich im Auftrag einer fetten Monstrosität einen Haufen Wikingerwesen mit ulkigen Namen wie Ulf Aderlasser. Ich zünde ihre Häuser an und meuchle ihren Anführer. Für ein paar Erfahrungspunkte mehr hätte ich auch ihre Kinder mitgenommen und an Sklavenhändler verkauft.

Um 3.42 Uhr habe ich 752.222 Punkte gesammelt, schütte mir auf die angedeutete Schnapszahl ein Glas Rotwein ein und lasse die zerklüfteten Klippen des Heulenden Fjords schnell hinter mir – sonst gerate ich noch in den Pulk der Nachzügler aus den Mitternachtsverkäufen.

Auf dem Rücken einer großen Schildkrötenfähre steuere ich einen neuen Hafen an. Die Schildkröte wird nach dem Eselsprinzip angetrieben: Zwei Karotten pendeln an einer Angel vor ihrer Schnauze, sie strampelt und strampelt, doch erreichen wird sie das Wurzelgemüse nie. Ich empfinde Mitleid mit der Schildkröte, denn es geht ihr wie mir: „World Of Warcraft“ hält mir stets die schönsten Karotten vor die Nase und lässt mich sogar mal ein Stückchen abbeißen, damit ich auf den Geschmack komme. Aber ich bleibe stets hungrig, und dieser Hunger nach dem greifbar Nahen treibt mich an. So strampele und strampele ich, ohne jemals das Gefühl zu haben, irgendwann satt werden zu dürfen.

Blizzards Logik entspricht es, dass nicht jedes erlegte Tier auch das für manche Quests benötigte Fleisch abwirft, stattdessen aber durchaus schwere Rüstungsteile mit Zauberschaden fallen lassen kann. Ich rotte ein ganzes Rudel Damwild aus, das sich zwei Minuten später aus dem Nichts wieder materialisiert. Um 4.34 Uhr töte ich „Bodo von der Hermannsklause“, einen Killerwal mit Dackelnamen. Eine halbe Stunde darauf setzt die Dämmerung ein. Ich schaue nach dem Spielstand und stelle entsetzt fest, dass mittlerweile etwa ein Dutzend Spieler schon auf Level 71 sind. Meine beginnende Müdigkeit und das mir angeborene schlechte Gewissen, einen Sonnenaufgang vor dem Zubettgehen zu erleben, geben mir den Rest. Immer noch auf Level 70, mit mittlerweile 1.048.098 Erfahrungspunkten, werfe ich mich um sechs Uhr in die Kissen. Und träume wild.

Level 71

Erst nachmittags um 13.41 Uhr erglüht Candyman in goldenem Licht – das Zeichen für einen Levelaufstieg. Mein Jubel ist verhalten, ich fühle mich wie ein Fußballer, der den Ehrentreffer zum 1:5 geschossen hat. Mittlerweile sind vier Spieler auf Level 73. „Freaks“, denke ich neiderfüllt und ärgere mich über mein Nickerchen.

Aber weiter geht’s: Ich jobbe für eine Gruppe durchgeknallter Piraten, füttere, verkleidet als Untoter, Gehirnsuppe an sabbernde Ghuls und werde anschließend unter einem Torbogen von Stealthgirl, einem Spieler der gegnerischen Partei, hinterrücks kaltgemacht. Stealthgirl, ich wünsche dir die Pest an den Hals! Andererseits … faszinierend an „World Of Warcraft“ ist doch eben, dass es jede Neigung bedient: Herdenmenschen gehen auf im virtuellen Miteinander; Entdecker treten in Alexander von Humboldts Fußstapfen und bereisen jeden Winkel der Fantasy-Welt; Perfektionisten suchen ihre Herausforderungen im Kampf gegen die schwersten Endbosse – und Leuten wie Stealthgirl, den so genannten Griefern, bereitet es eben diebische Freude, andere Spieler zu schikanieren.

Draußen wird es dunkel. Ich fühle mich pudelwohl und wünsche mir mehr Spielfluss. Doch die Wege zwischen den Questgebieten sind lang, und in der Gegend wimmelt es von anderen Spielern. Ganze Monstersiedlungen werden überrannt, und ihre Bewohner liegen erschlagen auf den Wegen. Es sieht hier aus wie ein virtueller Genozid. Spieler versammeln sich vor einer Hütte und warten darauf, dass die Bosskreatur Loghun wieder vom Tode aufersteht. Und das geht rasch: Loghun taucht sogar schneller wieder auf, als das Spiel seine Leiche verschwinden lassen kann. Als ich endlich an der Reihe bin mit ihm, fällt der Wolfsmensch auf zwei Pixelkadaver seiner selbst. Loghun und ich finden, dass es viel zu voll ist. Aber gerade dass es voll ist, macht „World Of Warcraft“ ja so populär. 2006 hatte „WOW“ mit mehr als acht Millionen Spielern so viele Einwohner wie Österreich. Heute sind es mehr als elf Millionen. „WOW“ ist also inzwischen Griechenland. Das ist zweifelsohne ein Fortschritt.

Level 72

Von einigen Spielern erfahre ich, dass sie sich eine Woche Urlaub genommen haben, nur um pausenlos am PC sitzen zu können. Um 22.34 Uhr sind fünf Spieler auf Level 74. Ich bin erst gegen eins auf Level 72 und werde schon wieder müde. Außerdem schmerzt mein Rücken vom vielen Sitzen, und als ich in den Spiegel schaue, habe ich kleine, rote Augen. Ich mahle mir frischen Kaffee und trinke ein Red Bull dazu. Doppelt gemoppelt hält besser. Mein Reitdino hetzt durch den Schnee der Drachenöde.

Im Zentrum dieser schroffen und unwirklichen Gegend steht ein riesiger Tempel, der aussieht wie der Turm zu Babel auf dem Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren. Hoch oben in der Luft kämpfen Dutzende Drachen gegeneinander, rote gegen blaue. Als ich zur Eingangspforte reite, fällt mir eines der Ungeheuer mit einem dumpfen Knall tot vor die Füße. Ich reite ostwärts und treffe auf eine verbündete Stadt von Untoten, die sich im Clinch mit religiösen Faschisten vom Scharlachroten Ansturm befindet. Ihr Kampf ist mein Kampf. Ich erhalte einen Käfig voller Ratten. Mit den Nagern im Gepäck begebe ich mich zur Burg Neuwerdheiler, den Stützpunkt der Gotteskrieger, und lasse die hungrigen Tierchen auf die von mir erlegten Hardliner los. Danach klaue ich ihre Reittiere. Unterwegs treffe ich auf einen Hexenmeister, der mir schon einen Level voraus ist. Aber er spielt auch schon seit 26 Stunden durch. Ohne Schlaf, dafür mit Speed. Dann bricht plötzlich die Serververbindung ab. Als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen. Als ich mich wieder einlogge, es ist mittlerweile 4.38 Uhr, steht vor mir auf dem Ladescreen: „Man sollte alles in Maßen genießen, sogar World Of Warcraft.“ Ich schließe die Augen und schlafe ein.

Nach sieben Stunden werde ich von Handyklingeln geweckt. Meine Mutter ist am Telefon und fragt, was ich so gemacht habe die letzten Tage. Ich erzähle es ihr, sie sagt, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, und legt auf. Mein Schreibtisch sieht mittlerweile wüst aus, aber nicht so schlimm wie mein Gesicht. Immerhin verdecken jetzt dunkle Schatten meine Augenringe. Dagegen hilft nur Kaffee und ein Quantum Toast. Wir haben jetzt einen 76er auf dem Server, einen Schamanen. Als ich ihn anschreibe, wie er das denn angestellt habe, erhalte ich einen automatische Antwort: „Dachef möchte nicht gestört werden. Fanboys Nummer ziehen und hinten anstellen … danke.“ Er ist arrogant, aber vorbereitet.

Level 73

Gegen 16 Uhr erobere ich mit vier weiteren Spielern einen Dungeon. Eine Salamipizza brutzelt im Ofen. Da klingelt es an der Tür. Zwei in zivil gekleidete Beamte vom LKA halten mir ihre Marken entgegen. Ihnen gegenüber steht ein verlotterter aussehender Typ in Jogginghose mit kleinen Augen. Panisch frage ich mich, ob ich irgendwas angestellt haben könnte. Ich lasse die Polizisten in den Flur. Im Hintergrund erzählen sich die Avatare meiner gelangweilt wartenden Mitstreiter die Handvoll „WOW“-Witze, die Blizzard in die Sprach-Ausgabe des Spiels integriert hat. Die Polizisten fragen mich nach meinem Mitbewohner: Er würde eventuell jemanden kennen, den sie suchen. „Liegt ein Augapfel auf dem Tresen, ist ein Untoter dagewesen“, hallt es aus meinem Zimmer. Ich sage ihnen, er sei in Zürich bei seiner Freundin. „Grün, grün, grün sind alle meine Orkse“, witzelt der Jäger aus der Gruppe. Sie fragen mich nach seiner Nummer, ich biete ihnen mein Telefon an. „Wer den Bullen reizt, spürt seine Hörner“, sagt der Taure – und ich versinke im Boden. Fünf Minuten später sind sie weg. Als ich wieder an meinen Schreibtisch will, rieche ich etwas Unangenehmes aus der Küche. Die Pizza! Sie ist inzwischen zum Keks geworden. Eine typische „Warcraft“-Pizza.

Abends kommt meine gute Freundin Dorle vorbei. Ihr zuliebe verzichte ich auf die Jagdquests in den Grizzlyhügeln. Sie ist ein großer Fan von Dam- und Rotwild, und ich bin sehr dankbar für ihre Gesellschaft, deswegen krümme ich den stolzen Hirschen kein Haar. Das ist nicht sehr zielstrebig von mir, aber Freundschaft wiegt schwerer als ein paar Tausend Erfahrungspunkte. War ich zuvor wieder müde, spiele ich mit ihr an meiner Seite munter drauflos. Wir unterhalten uns über den freien Willen meines Wasser-Elementars und töten zottelige Zweibeiner, die sich an eine Holzpalisade angelehnt haben und anscheinend Pause machen. Das wiederum finde ich nicht sehr ehrenhaft und suche fortan nur noch solche, die beschäftigt in der Gegend rumlaufen. Wer möchte schon in seiner Mittagspause von einem Eisblitz getroffen werden? Als Dorle auf meinem Sofa einschläft, reite ich zurück zu den stolzen Hirschen und besorge mir ihr Fleisch. Inzwischen sind schon drei Spieler auf Level 77.

Ich finde einen Gegendstand, eine Rolle der Willenskraft. Super, genau das brauche ich jetzt: Willenskraft. Eine Blutelfe mit Level 78 flattert an mir vorbei und erweckt meinen Zorn. Blutelfen gehören zu dem Schlag Elfen, die mit einer mit Swarovski-Kristallen geschmückten Kakerlake an der Leine durch die Gegend laufen. Während ich in finsteren Gedanken schwelge, entdecke ich den Pfad der Titanen, kassiere dafür 2000 Punkte und steige um 2.45 Uhr zu Level 74 auf. Genau eine halbe Stunde später, um 3.15 Uhr, erscheint auf meinem Monitor die Nachricht, dass der Ork-Schamane Dachef als erster Spieler auf dem Server Stufe 80 erreicht habe. Ich habe das Rennen verloren. Niedergeschlagen gratuliere ich ihm, aber es kommt keine Antwort, nicht mal ein Verweis auf die Warteschlange für Fanboys. Wer will auch schon mit jemandem sein Trikot tauschen, der die ganze Zeit sechs Ligen tiefer gespielt hat? Mein Rechner summt leise vor sich hin. Ich singe leise dazu: „Who can take the sunrise / sprinkle it with dew / cover it with choc’late and a miracle or two / The Candyman, yes the Candyman can.“ Dann lege ich mich an das freie Ende des Sofas und schlafe ein.

Illustrationen: Axel Pfaender (ITF)

Erschienen im GEE Magazin Dezember 2008 und auf Spiegel Online, 29.12.2008