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Wir schrieben das Jahr 2012, da kündigte der kanadische Spielentwickler Ubisoft einen Open-World-Titel an, der in einer neuzeitlichen Großstadt spielen sollte. Der Held des Spiels sollte ein Hacker sein, der die städtische Infrastruktur mit seinem Handy manipulieren kann. Es war zu einer Zeit als der Öffentlichkeit der Name Edward Snowden und das ganze Ausmaß der staatlichen Überwachung noch nicht bekannt war.

Das hat sich inzwischen geändert. Der Überwachungsskandal ist in aller Munde und für die Entwickler von Watch Dogs ist das zumindest insofern ein erfreuliches Ereignis, als dass es die mediale Aufmerksamkeit für ihr Spiel ganz ordentlich erhöht haben dürfte.

Hacking ist in Watch Dogs – einer Mischung aus den Spieleklassikern Grand Theft Auto und Assassin’s Creed – eine zentrale Spielmechanik. Zückt Aiden Pearce, der Protagonist des Spiels, sein Handy, ziehen sich feine Linien über den Bildschirm, der Spieler kann einen Blick auf die Matrix der Stadt Chicago und seiner Bewohner erhaschen.

Massenkarambolagen wegen manipulierter Ampel

In Watch Dogs ist aus der Stadt eine Smart City geworden. Es ist eine Spielwiese für Hacker. Ampelanlagen lassen sich plötzlich auf Grün schalten und manchmal verkeilen sich die Verfolger in einer Massenkarambolage. Brücken und Poller fahren im letzten Moment hoch und versperren den Weg. Unterirdische Gasleitungen lassen völlig unerwartet den Asphalt bersten.

Hackbar ist in dieser Stadt alles, was ins Blickfeld gerät. Das ist im weiteren Spielverlauf wichtig, wenn es darum geht, schwer bewachte Areale zu infiltrieren, zum Beispiel um Informationen von einem Laptop zu stehlen. Mit dem Telefon greift man auf Überwachungskameras zu und verschafft sich einen Überblick: Wo geht es unbemerkt rein, wie kommt man mit minimalem Einsatz von körperlicher Gewalt an die gewünschten Daten?

Der Spieler kann die Alarmanlage geparkter Autos aktivieren, um Wachen von ihrem Posten wegzulocken. Oder einen Schaltkreis überladen und sie mit einer Explosion außer Gefecht setzen. Rein theoretisch besteht immer die Möglichkeit, an den Gegnern vorbei zu huschen. Rein praktisch enden viele Versuche in einer Schießerei – Aiden Pearce ist nicht nur Hacker, sondern er kann auch mit analogen Knarren umgehen. Schuld daran ist die etwas ungenaue und unübersichtliche Steuerung. Die wird in mancher Mission zum richtigen Ärgernis.

Mit echtem Hacking hat das, was Aiden Pearce mit seiner Umwelt veranstaltet, wenig zu tun. Der Spieler nutzt die Fähigkeiten eher wie eine Superkraft. Aber die Inszenierung von Computerangriffen stellt ja auch Hollywood-Filme regelmäßig vor eine kreative Herausforderung mit häufig grotesk anmutenden Ergebnissen.

Ein tatsächliches Manko des Spiels ist die Hauptfigur. Aiden Pearce ist ein extrem unsympathischer Kerl, was die schlechtesten Voraussetzungen sind, um ihn über eine Spieldauer von mindestens 20 Stunden durch die ostamerikanische Metropole zu begleiten. Pearce funktioniert prima als Vehikel für die unterschiedlichen Multiplayer-Missionen, in denen man etwa inkognito das Spiel eines anderen Spielers infiltriert und ihn zu einem Katz-und-Maus-Spiel herausfordert. Aber er ist kein Robin Hood, nicht einmal ein kriminelles Mastermind.

Sein menschlichster Charakterzug: ein schlechtes Gewissen, weil die kleine Nichte bei einem Unfall starb und die Schwester gleich zu Beginn der Geschehnisse von einem alten Kumpel als Faustpfand entführt wird. An beidem ist unser vermeintlicher Held nicht ganz unschuldig. Fortan bringt der Hacker mit dem Mantel nicht nur arglose Passanten um ihre Ersparnisse, sondern er geht selbstgerecht über Leichen.

Von moralischer Überlegenheit keine Spur

Vielleicht ist der Vergleich mit Grand Theft Auto V unfair. Aber wo Rockstar Games mindestens zwei spannende Hauptfiguren und unzählige aberwitzige Nebencharaktere bietet und sich in Wortwitz und ironischer Distanzierung überschlägt, redet Aiden Pearce mit heiserer Batman-Stimme von Rache. Er bietet weder moralische Überlegenheit, an der sich der Spieler festhalten könnte, noch innere Zerrissenheit, die ihn zum tragischen Helden machen würde.

Watch Dogs ist ein guter Open-World-Titel, von den Spielmechaniken ein Best-Of aus den bereits etablierten Spielereien von Ubisoft, allen voran Assasin’s Creed und FarCry. Die Hoffnungen, das mit Spannung erwartete und bereits vor Release mehrfach ausgezeichnete Spiel könne so etwas wie das „1984“ unter den Computerspielen werden, ein „Grand Theft Data“ als hochbudgetierte Systemschelte, erfüllt sich jedoch nicht. Aber substanzielle Kritik durch ein Triple-A-Spiel wäre wohl auch ein Widerspruch in sich. Aiden Pearce hat einfach nicht genug Profil, um als Hacker-Posterboy zu dienen. Er ist nur eine Actionfigur mit einem Super-Smartphone.