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Ligato: Brettspiel-App aus
der DDR

Lothar Schubert entwickelte in der DDR das Strategiespiel „Ligato“. Die turbulente Zeit der Wende überlebte es nicht. Doch jetzt wird es reanimiert – als App.

Am 20. Juli 1990 bekam Lothar Schubert Post. Absender war der VEB Berlinplast. Noch vor dem Mauerfall hatte Schubert dem Volkseigenen Betrieb die Idee für ein Brettspiel verkauft. Er hatte einen Honorarvertrag unterzeichnet, Vertragsgegenstand war die „Erarbeitung eines Logikspiels für Kinder und Erwachsene“. Der festgesetzte Stundensatz betrug 30 Stunden. Dann kam die Wende.

Lange hörte Lothar Schubert nichts von der VEB Berlinplast, bis zu eben jenem Tag im folgenden Sommer. Im Briefkopf war das „VEB“ vor dem Namen des einstigen Staatsbetriebes durchgestrichen. Stattdessen standen jetzt hinter Berlinplast – mit einem Kugelschreiber per Hand geschrieben – vier neue Buchstaben: „GmbH“. In dem Brief hieß es: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, daß auf Grund einer Umstrukturierung in unserem Betrieb keine Gesellschaftsspiele mehr hergestellt werden, Sie Ihr Ligato also nicht auf dem Markt sehen können. Da bei uns aber der Karton bereits im Andruck vorlag, senden wir Ihnen wenigstens ein Handmuster des Spieles in der vorgesehenen Form und Ausstattung.“

Ligato, das Spiel von Lothar Schubert, überlebte die Wende nicht. Das war schade. Ligato hatte das Zeug zum Klassiker.

Monopoly im Eigenbau

Die Regeln des Brettspiels sind einfach, und man braucht wenig Material, um loszulegen. Jeder Spieler hat sechs Steine, wie man sie von Backgammon kennt. Die werden abwechselnd auf das Spielbrett gelegt, das sechs Felder in der Breite und zehn Felder in der Länge misst. Ziel des Spiels ist, als Erster die eigenen Steine in die letzte Reihe der farblich markierten Startzone des Gegners zu bringen. Die Steine können nach vorne oder hinten gezogen werden, und zwar immer so viele Felder, wie eigene und gegnerische Steine in der gleichen Reihe stehen. Ein Beispiel: Liegen in Reihe fünf zwei eigene und ein gegnerischer Stein, darf der nächste Stein aus der Reihe drei Felder gezogen werden. Dabei gilt, dass ein Feld immer nur von einem Stein besetzt werden kann.

Die DDR war beileibe kein Eldorado für Brettspiel-Fans. Erhältlich waren Schach, Dame oder Mühle. Es gab auch ein paar Mensch-ärgere-Dich-nicht-Variationen für Kinder sowie einige Kopien von erfolgreichen West-Spielen, darunter Variablo, eine leicht veränderte Version von Mastermind. Aber wer etwa das überaus beliebte Monopoly spielen wollte, musste sich das Spiel eigenhändig zusammenbasteln.

Als Lothar Schubert Mitte der Achtziger die Deutsche Bücherei in Leipzig aufsuchte, hoffte er, dort Spiele-Bücher aus der BRD zu finden: „Manche Bücher aus dem Westen durften nur unter Bewachung in einem speziellen Raum gelesen werden, man durfte nichts abschreiben oder kopieren, geschweige denn die Bücher ausleihen.“ Lothar Schubert hatte Glück. Er fand Beschreibungen von Spielen aus dem Westen, auch solche von noch nicht veröffentlichten Prototypen. Sie galten als unbedenklich, und so setzte er sich in den Lesesaal, las begierig und schrieb ein ganzes Notizbuch voll. Dann dachte er sich: Das kann ich auch.

Seine ersten vier Spielideen verkaufte er an die VEB Plasticard Karl-Marx-Stadt. Zwar gingen die Spiele nie in Produktion. „Es fehlten einfach die Produktionsmittel wie Pappe oder Kunststoff, so war das halt in der DDR“, sagt der 60-Jährige, der heute die städtische EDV seiner Heimatstadt Riesa leitet. „Aber immerhin bekam ich 2.500 Mark, davon konnten wir uns eine neue Küche leisten.“

Dass Ligato, Schuberts Spiel Nummer fünf, nun als App erhältlich ist, mit der die Entstehungsgeschichte des Spiels gleich mit erzählt wird, ist auch das Verdienst zweier junger Männer, die nur noch Kindheitserinnerungen an die DDR haben dürften. Martin Thiele und Michael Geithner wollten wissen, welche Spiele ihre Eltern in der DDR  gespielt haben. Also trugen sie die Kopien von Monopoly und einigen anderen Westspielen sowie DDR-Entwicklungen zusammen und stellten sie in einer Wanderausstellung namens Nachgemacht aus.

Stationierung der Raketen

So lernten sie Lothar Schubert kennen. Martin Thiele war begeistert von Ligato. Weil das Originalspiel ein Unikat war, die Handkopie, die Schubert kurz nach der Wende zusammen mit dem Brief der VEB Berlinplast GmbH erhalten hatte, bastelte Thiele zu Hause selbst ein Spielbrett. Kurz darauf fragten sie, ob Lothar Schubert nicht Lust habe, Ligato (der Spielname ist übrigens nicht etwa lateinisch, sondern eine Wortneuschöpfung) als App herauszubringen.

Die sieht anders aus als das Originalspiel. Die digitale Variante – deren deutsche, englische und russische Sprachausgabe als kostenloser Download verfügbar ist, der Multiplayer und ein Undo-Button sind In-Game-Käufe – präsentiert das strategische Hin und Her der Spielsteine als Kampf der Blockmächte USA und UdSSR.

Bestimmte Steinkonstellationen werden in Kalter-Krieg-Terminologie als „Mauer“, „Spion“ oder „Stationierung von Raketen“ bezeichnet. „Das hätte ich mich damals nicht getraut“, sagt Lothar Schubert heute, aus gutem Grund: „Es gab etwa einen Pfarrer, der hat ein Spiel namens Bürokratopoly erfunden. Es ging darum, mit allen erdenklichen Mitteln zum Staatssekretär aufzusteigen. Über den Mann wurde eine Stasi-Akte angelegt.“

Erschienen auf Zeit.de