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Ken Levine ist der Kopf hinter dem Art Deco-Shooter Bioshock. Auf der Gamescom sprach ich mit dem Kreativchef von Irrational Games über amerikanische Geschichte und die Macht des Geschichtenerzählens.

Ken Levine, warum erzählt Bioshock immer Geschichten über Gewalt und den Niedergang einer Zivilisation?

Zuerst einmal erzählen wir Geschichten über Menschen. Menschen in fantastischen, ja unglaublichen Szenarien. Und Menschen neigen nun einmal zur Dekadenz und zur Gewalt. Sind aber auch nett und großzügig, gut und böse. Manche sind gar gut an dem einem und böse am anderen Tag. Die Dekadenz und die Gewalt, die der Spieler in Bioshock erlebt, sind aber nur ein Spiegelbild menschlicher Eigenschaften. Wir erfinden sie nicht. Das ist, was Menschen sind und tun.

Ist Bioshock also immer ein Kommentar auf aktuelle Entwicklungen, auf den ganzen Mist, den wir Menschen bauen?

Nein. Wir haben kein Interesse, anhand einzelner Punkte zu erklären, wie die Welt tickt. Viel lieber beschäftigen wir uns mit universellen Dingen. Nehmen wir Bioshock. Das Spiel zeigte den Kollaps einer Gesellschaft, die von einem freien Markt dominiert wurde. Ein paar Jahre später mussten wir ebendies durchmachen: den Kollaps des freien Marktes. Alan Greenspan, der ehemalige Vorsitzende der US-Notenbank, trat vor den Kongress und sagte: „Ja, was den freien Markt und seine Gesetzmäßigkeiten betrifft, vielleicht haben wir uns da ja ein wenig geirrt.“ Und das war, nachdem Bioshock auf den Markt kam.

Menschen neigen zur Dekadenz und zur Gewalt

Das klingt ja fast prophetisch…

Man muss kein Wahrsager sein, um festzustellen, dass sich solche Dinge immer wiederholen. Die Themen aus Bioshock Infinite – Vaterlandsliebe, Nationalismus, Rassismus – sind in allen Ländern vertreten, sie kommen und gehen. Und wir fragen uns: warum ist das so? Warum sind sie so wichtig für die Leute? Deswegen untersuchen wir das aus anderen Blickwinkeln. Und diese verschiedenen Blickwinkel wollen wir zu einer Geschichte verbinden.

Es hat ja nun ein Tapetenwechsel stattgefunden. Bioshock Infinite spielt nicht mehr in der Unterwasserstadt Rapture, sondern in Columbia, einer fliegenden Stadt. War es schwer, das Bioshock- Gefühl hinüber zu retten?

Was ist denn das Bioshock-Gefühl? Ein Bioshock-Spiel tut ja vor allem zwei Dinge: eine Welt offenbaren, die unglaublich erscheint und dennoch von einer glaubwürdigen Menschlichkeit geerdet wird. Und dem Spieler eine große Palette an Werkzeugen an die Hand zu geben, um mit den Herausforderungen dieser Welt klarzukommen. Alles andere ist sekundär.

Ein Big Daddy in Begleitung einer Little Sister ist also eine Randerscheinung?

Rapture, Big Daddies und Little Sisters, all diese Dinge können, dürfen und sollen neu überdacht werden. Diesem Grundsatz fiel auch Rapture zum Opfer. Wir haben einfach eine neue Herausforderung gesucht. Es ist wichtig, sich selbst immer wieder neu herauszufordern.

Welchen Herausforderungen musste sich das Team denn stellen?

Wir zerbrachen uns den Kopf, wie wir Kämpfe hinbekommen, bei der die Kämpfer mir Geschwindigkeiten von 60 bis 80 Meilen pro Stunde am Horizont entlang fegen. Wir fragten uns, wie wir eine Stadt bauen, deren einzelnen Teile sich in einer Sichtweite von bis zu einer halben Meile Entfernung bewegen.

Wir bekommt auch erstmals einen computergesteuerten Charakter zur Seite gestellt. Auch so eine Herausforderung?

Klar. Wir wollten einen Charakter erschaffen, mit dem sich der Spieler stets identifizieren kann. Einen, der ganz von seinen Emotionen getrieben wird und damit ganz anders ist als Jack aus Bioshock, der ein Cipher war und damit so seine Probleme mit Gefühlen hatte. All diese Dinge müssen uns vor Probleme stellen, müssen Herausforderungen sein, müssen eine gewisse Frische besitzen. Denn wenn wir nicht sagen: „Hey, das ist fresh“, dann werden es die Fans und Spieler wohl ebenso wenig.

Wir wollten das Lebensgefühl dieser Zeit konservieren und haben aus ihm Orte erschaffen

Und warum ist Elisabeth so fresh?

Wenn du im Originalspiel auf einen neuen Charakter getroffen bist, war es, als hättest du eine Person hinter einer Glasscheibe gesehen. Nun wollten wir dem Spieler jemanden geben, der tatsächlich bei ihm ist. Der aktiv eine Geschichte erzählt. Und das kann man besser, wenn die Geschehnisse dafür sorgen, dass man Zuneigung empfindet und sich miteinbezogen fühlt. Schließlich ist für sie auch alles neu, weil Elisabeth 15 Jahre in einem Turm eingesperrt war. Und wenn sie befreit wird, entdeckt sie die Welt und ihre eigenen Kräfte nach und nach.

Ging es Ihnen auch darum, sich in einen neuen Teil amerikanischer Historie vorzunehmen?

Bioshock-Spiele sind keine eigentlichen Geschichtsspiele, sondern finden nur in einem historischen Kontext statt. Soweit ich weiß gab es in den Sechzigern keine Unterwasserstadt. Ebenso wenig gab es 1912 eine Stadt in den Wolken. Aber wir wollten natürlich das Lebensgefühl dieser Zeit konservieren und haben aus ihm Orte erschaffen.

Welches Lebensgefühl?

Debatten über die Gegenwart und die Zukunft Amerikas waren gerade zu dieser Zeit sehr aktuell. Die USA hat sich zu der Zeit von einer regionalen zu einer internationalen Macht gemausert. Wir hatten den Bürgerkrieg gerade hinter uns. Der hat damals 620.000 Amerikaner das Leben gekostet hat. Hochgerechnet auf die heutige Population der USA wären das sechs Millionen Kriegsopfer. Und dann, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, begannen wir – zusätzlich zu Mais und Getreide – Radios und Autos und Fotoapparate zu produzieren. Die Welt ist quasi über Nacht eine andere geworden.

Die Welt ist quasi über Nacht eine andere geworden

Kennt unsere Generation dieses Gefühl nicht auch? Was damals das Radio war, ist heute das Internet.

Ja, solch rasante Entwicklungen konnten wir selbst sehr gut beobachten. Damals hat die Rasanz der Entwicklung aber zur Vorstellung geführt, dass man in weiteren fünf Jahren in schwebenden Städten wohnen würde. Und wenn man sich die Fantasy-Art dieser Zeit anschaut, gab es viele solcher Visionen. Städte in der Luft, da sollte es hingehen: zu den Göttern. Wir fanden das furchtbar interessant und haben uns vorgenommen, es noch ein wenig zu übertreiben. Aber, ehrlich gesagt, so sehr haben wir dann doch nicht übertrieben.

Wurden denn viele Geschichtsbücher gewälzt, um die Hintergründe zu recherchieren?

Ich lese tatsächlich Tonnen von historischen Büchern. Die Fiktion erspinnen wir selbst. Leute sagen immer, das erste Bioshock sei ein Steampunk-Spiel. Aber das stimmt nicht, weil wir der jeweiligen Fiktion einer Epoche weniger Beachtung schenken. Wir schauen uns die Architektur an, das Art Deco etwa oder Gebäude aus der Kolonialzeit sowie die Politik dieser Zeit. Die fantastischen Elemente sind unsere Kreationen.

Ist es denn wichtig, die historischen Fakten zu kennen, wenn man sie danach eh wieder verbiegt?

Es hilft enorm. Aber darum geht es nicht. Ich persönlich weiß eine ganze Menge über diese Periode. Mein Job ist es aber nicht, all mein Wissen an andere weiterzugeben. Lest ein Buch, wenn ihr mehr wissen wollt. Der interessante Teil meiner Arbeit ist mehr der eines Cutters beim Film. Ich muss sehen, welche dieser Elemente die interessantesten sind und wie man sie dann in dem Spiel unterbringen kann. Auch für Bioshock haben wir nur relevante Fragmente unseres Wissens dargestellt. Und auch der neue Teil soll keine Geschichtsstunde werden, sondern eine faszinierende Reise in eine andere Welt. Wenn es die Spieler darauf bringt, sich weiter mit dem Thema zu befassen, umso besser.

Veröffentlicht auf gamereactor.de