Zum Inhalt springen

Eric Zimmerman redet nicht nur klug über Spiele, er entwirft sie auch selbst. Im GEE-Gespräch beim A Maze.– Workshop in Berlin erklärt er, warum Games die Zukunft des Lernens sind, wie Tiere spielen und was „Farmville“ mit Fast Food zu tun hat

Sie widmen Ihr Leben als Entwickler und Theore­tiker ganz dem Spiel. Warum hat Spielen einen so schlechten Ruf?

Spielen erscheint häufig als unangebracht. Stellen Sie sich vor, Sie hüpfen eine Straße hinunter, anstatt zu laufen wie alle anderen. Damit missachten Sie Regeln, die besagen, wie Sie sich in der Öffentlichkeit fortzubewegen haben. Wenn ein Kind mit dem Essen spielt, missachtet es das Regelwerk, das für diese Situation aufgestellt wurde, um die Ernsthaftigkeit der Nahrungsaufnahme sicherzustellen. Und in einer traditionellen Eltern-Kind-Beziehung wachen nun einmal die Eltern darüber, dass die Dinge sind, wie sie sein sollen.

Traditionell gilt es sogar als Zeichen von Erwachsen­ sein, seinen Spieltrieb überwunden zu haben.

Das finde ich falsch. Spielen ist nicht so existenziell wichtig wie Vitamine und Mineralstoffe, die wir zum Überleben brauchen, aber Spiel ist notwendig. Alle höheren Säugetiere spielen. Hunde, Affen, Pferde, alle. Dabei nehmen Tiere ihr Spiel semiotischer wahr als wir – das heißt: Sie orientieren sich viel mehr an eindeutigen Signalen, die ihr Gegenüber sendet – zugleich haben sie aber ein faszinierendes Verständnis für Feinheiten. Und das, obwohl sie keine rationalen Lebewesen sind. Für mich ist das ein Argument dafür, das Spiel als einen der Bausteine des Lebens zu sehen.

Spielen ist eine menschliche Eigenart, wie Musizieren oder Geschichtenerzählen

Wenn wir vom Leben sprechen: Inwiefern ist das Spiel von Menschen und Tieren vergleichbar? Gibt es im Tierreich zum Beispiel auch feste Spielregeln?

Sie haben kein niedergeschriebenes Regelwerk, aber ihr Spiel ist äußerst strukturiert. Wenn zum Beispiel Hunde miteinander spielen, sind die Abläufe von Ritualen geprägt. Schließlich sind Hunde in der Lage, einander im Kampf zu verletzen oder gar zu töten – wollen sie also „Kampf“ spielen, müssen sie deutlich machen, dass es sich um ein Spiel handelt. Das tun sie, indem sie nicht ihre Zähne zeigen, dafür aber ihre Ohren aufstellen und mit dem Schwanz wedeln. Zwicken sich die Hunde im gespielten Kampf, signalisiert das: Ich beiße dich. Aber gleichzeitig besagt es auch das Gegenteil: Ich beiße dich nicht. Diese Metakommunikation ist ganz typisch für das Spiel an sich.

Gilt das auch für unser menschliches Spiel ohne potenziell tödlichen Ausgang?

Spielen ist eine zutiefst menschliche Eigenart, wie auch soziales Interagieren, Musizieren oder Geschichtenerzählen. Es ist eine fundamentale ästhetische Ausdrucksform. Das Erzählen von Geschichten kann Abermillionen Zwecke erfüllen, und dabei ist nicht wichtig, ob die äußere Form eine Gutenacht- geschichte oder ein Videospiel ist. Doppeldeutigkeit im Spiel gibt es natürlich nicht nur bei Tieren, sondern auch bei Menschen – auch und sogar vor allem beim Spielen von Videogames. Schließlich existierten die Spieler dabei auf den verschiedensten Ebenen: als Figur im Spiel, als diejenigen, die diese Figur steuern und zugleich als Personen, die in der Realwelt lebt.

Immer mehr wird heutzutage vernetzt gespielt, und dort vor allem in sozialen Netzwerken wie Facebook. Was sagen Sie zum Erfolg von Spielen wie „Farm­ville“? Inzwischen beackern 58 Millionen Menschen ihren virtuellen Facebook­-Bauernhof.

Ich finde solche Spiele faszinierend und habe dabei gleichzeitig gemischte Gefühle. Gerade „Farmville“ bricht jede Menge Design-Regeln, die hinter vielen guten modernen Spielen stecken: dass ein Game seinen Spieler zum Beispiel vor bedeutende Entscheidungen stellen sollte, die Auswirkungen auf das Geschehen haben. Dass der Spieler etwas riskieren muss, um zu gewinnen. Dass ein Spiel nicht nur auf eine Weise gespielt und gewonnen werden kann. In „Farmville“ gibt es kaum große Entscheidungen, die der Spieler treffen könnte, und es gibt kein Risiko, nichts. Dieses Game ist so etwas wie die Fahrstuhlmusik unter den Spielen: die am wenigsten herausfordernde Version eines Spiels, die man sich ausdenken kann.

„Farmville“ ist Fast Food, ohne jeglichen Nährwert

Aber „Farmville“ bietet seinen Spielern immerhin eine Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten.

„Farmville“ hat zwar eine gewisse Optionsvielfalt, aber es ist wie in einem großen amerikanischen Supermarkt: Dort hat man auch die Wahl zwischen 500 verschiedenen Cornflakes, aber alle bestehen aus Mais und Zucker, und alle stammen aus der Produktion von drei Anbietern. Wir haben dort wie hier nur eine Illusion von Entscheidungsfreiheit: In „Farmville“ kann ich zwar Samen für rote oder gelbe Blumen pflanzen und muss unterschiedlich lange warten, bis sie sprießen – das Gameplay jedoch bleibt immer gleich. Es passiert niemals etwas Überraschendes. Nehmen Sie dagegen ein Spiel wie „Starcraft“: Dessen Mechanik hat eine unvorstellbare Tiefe. „Farmville“ ist dagegen Fast Food, ohne jeglichen Nährwert. Es unterstützt keine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Spielsystem, es ist nur dafür da, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Dennoch muss ich mich als Spieldesigner und -theoretiker natürlich fragen, warum die Leute so gerne diesen Game-Burger essen und liebend gerne „Farmville“-Cola trinken. Was finden sie dabei ansprechend? Ist es die Farbe, der Geschmack, das Marketing, der kulturelle Kontext? Oder sind es die Blasen?

Und?

Ich weiß nicht, warum andere Leute Cola trinken. Aber ich glaube zu wissen, dass „Farmville“ vor allem deswegen so beliebt ist, weil man darin gegen die eigenen Freunde antreten kann. Was bedeutet es schon, die Nummer 5671 auf einer weltweiten Highscore-Liste zu sein? Nichts! Die Nummer eins unter deinen Freunden zu sein hingegen umso mehr.

Im Prinzip ist „Farmville“ jedoch nicht mehr als ein virtuelles Werkzeug zum Zeittotschlagen. Kritiker bemängeln zusehends, man würde in digitalen Spie­ len selten etwas lernen, das über die Beherrschung des Spiels hinausgeht. Was ist Ihre Haltung dazu?

Ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, Spiele auf das zu reduzieren, was sie uns beibringen. Das ist, als ob man die Kochkunst der Nouvelle Cuisine auf den Brennwert ihrer Inhaltsstoffe reduzieren würde. Ich hoffe, ich erlebe es noch, dass Spiele nicht mehr nach diesem Muster betrachtet und bewertet werden, sondern auf die Stufe gehoben werden, auf der sich zum Beispiel Musik befindet.

Welche Rolle spielt dabei das Schulprojekt Quest To Learn, bei dem Sie sich engagieren?

Da muss ich ein wenig ausholen: Quest To Learn gibt es seit einem Jahr. Es ist eine öffentliche Schule in New York, eine echte Schule mit Noten und Abschlusszeugnissen. Das Besondere: Sie nutzt spielerische Ansätze zur Wissensvermittelung. Die Idee ist aus Gesprächen mit Wissenschaftlern entstanden, zum Beispiel mit James Paul Gee, der mehrere Bücher zum Thema Spiel und Lernen geschrieben hat. Als Ergebnis dieser Gespräche entstand „Gamestar Mechanic“, eine Website, auf der Kinder selbst Spiele entwerfen können. Sie macht Kids zu Gamedesignern, gibt ihnen ein einfaches Interface zur Hand, sodass sie keine Programmiersprache brauchen, und bettet alles in eine Welt ein mit Rollenspielen, Narrationen und Wettbewerben. Um das Ganze organisatorisch zu überdachen, haben wir dann das Institute Of Play gegründet, eine Nonprofit-Organisation, die von Katie Salen geleitet wird, einer renommierten Gamedesignerin und Universitätslehrerin, die mit mir zusammen das Buch „Rules Of Play“ geschrieben hat. Quest To Learn steht unter der Schirmherrschaft des Instituts und wird von ihm unterstützt. Wir finanzieren auch zusätzliche Stellen. Zum Beispiel ein Team von Game-Designern, das den Lehrern beim Erstellen der Lehrpläne unter die Arme greift.

Unsere Schüler sind unglaublich motiviert. Zudem schneiden sie gut ab

Die Schüler lernen nicht, sondern spielen?

Sie lernen beim Spielen. Es geht um die enge Verbindung von Spiel und Lernen. Wir wissen, dass Spiele die Auseinandersetzung mit Systemen lehren. In der Lage zu sein, die Funktionsweise von Systemen analysieren zu können, ist eine Form von Bildung, die in traditionellen Schulen kaum vermittelt wird. Dabei wird dieses Wissen immer wichtiger, um in der heutigen Welt erfolgreich sein zu können. Durch Computer und das Internet sind wir auf unterschiedlichste Weise abhängig von funktionierenden Systemen. Unsere Kommunikation und unsere Arbeitswelt basiert auf ihnen. Genauso wie Lesen und Schreiben seit jeher fundamentale Formen von Bildung darstellen, ist die Systemlehre grundlegend für die Zukunft.

Wie können wir uns eine typische Unterrichtsstun­ de an der Quest­ To­ Learn­-Schule vorstellen?

Der Lehrplan sieht viel Projektarbeit vor. Die Schüler arbeiten in kleinen Gruppen miteinander, und die Wissensvermittlung ist oftmals eingebunden in eine Erzählung. Nehmen Sie zum Beispiel ein Schulfach wie „Codeworlds“. Hier verschmelzen Mathematik und Sprache miteinander: Die Schüler kommunizieren über das Internet mit einem Wesen von einem anderen Planeten, das ihnen mathematische Aufgaben stellt. So durchlaufen sie mehrere Level und meistern dabei immer höhere Schwierigkeitsgrade – genau wie in einem Spiel. Wir zeigen den Kindern auf diese Weise, dass mathematische und grammatikalische Strukturen nichts anderes als Codes sind, die zu lesen sie lernen können. Der übliche Unterrichtstoff wird den Kindern somit auf eine völlig neue Art beigebracht.

Lassen sich Kinder leichter für trockene Themen be­ geistern, wenn sie ihnen auf spielerische Weise ver­mittelt werden?

Unsere Schüler sind unglaublich motiviert. Zudem schneiden sie gut ab. Das amerikanische Schulsystem sieht eine Vielzahl von Tests vor, durch die Schulen miteinander verglichen werden können – und die Ergebnisse der Schüler von Quest To Learn sind überdurchschnittlich.

Diese neue Generation von Schülern könnte somit die erste sein, die ihre Hausaufgaben lieben wird. Das klingt unglaublich.

So ganz anders ist unser Ansatz ja gar nicht. Wir erfüllen alle staatlichen Regeln, die vorgeben, was Kinder in der Schule zu lernen haben, wir spielen dabei nur ein bisschen mit den Methoden. Und plötzlich lieben es die Kinder nicht nur, zur Schule zu gehen – sie sind sogar glücklich, unsere Schule besuchen zu können. Was Sie unglaublich nennen, ist also bereits Realität. Und das wiederum freut mich unglaublich.

Erschienen im GEE Magazin, Februar 2011