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Krieg als Zeichentrick

Computerspiele über den Ersten Weltkrieg sind selten. Wer will schon mit Stellungskriegen seine Zeit verplempern? Dass er trotzdem Stoff für ein gutes Game bietet, zeigt nun ausgerechnet ein Puzzle-Adventure: Valiant Hearts.

Wie sähe ein Egoshooter aus, der im Ersten Weltkrieg spielt? Wahrscheinlich irgendwie so: Die Angreifer verschanzen sich in einem schlammigen Graben. Gesprochen wird nicht. Als Spieloptionen stehen Beten, Kotzen, Weinen, Rauchen und Briefeschreiben zur Verfügung.

Nach zehn Minuten ertönt eine schrille Pfeife. Der Sturm beginnt. Die Spielfiguren hechten aus dem Graben, direkt in das offene Maschinengewehrfeuer der Verteidiger. Alle sterben. Dann wechseln die Rollen, die Angreifer müssen verteidigen. Ein Match dauert zehn Stunden.

Nein, es ist kein Zufall, dass der Erste Weltkrieg nur in wenigen Computerspielen eine wichtige Rolle spielt. Der Stellungskrieg, das Verharren in den Schützengräben, ist aus Sicht eines Gamedesigners wenig reizvoll. Trotzdem hat sich jetzt das Entwicklerstudio Ubisoft Montpellier an eine spielerische Umsetzung des großen Krieges gewagt, der im Hochsommer vor hundert Jahren seinen Anfang nahm.

Emile ist ein französischer Bauer, der gemeinsam mit seinem deutschstämmigen Schwiegersohn Karl einen Hof bewirtschaftet. Karl wird zu Beginn des Krieges von seiner Familie getrennt, aus Frankreich ausgewiesen und in seinem Heimatland zum Kriegsdienst verpflichtet. Auch Emile wird eingezogen. Beide stehen sich plötzlich im Kampf gegenüber. Eine tragische Familiengeschichte. Anna wiederum ist eine belgische Medizinstudentin, deren Vater von dem zwielichtigen Baron von Dorf entführt wurde, Freddie ein kreolischer Amerikaner, der sich freiwillig meldet. Diesen Figuren folgt man durch die Wirren des Krieges, über Paris und das ausgebombte Reims, hinein in die Schützengräben von Verdun.

Spieler durchforstet Schützengräben

In Bezug auf das Gameplay ist Valiant Hearts – der Titel ist angelehnt an eine Hymne, die den Toten des Weltkrieges gedenkt – ein klassisches Adventure. Es gilt, alle Gegenstände in einem Spielabschnitt zu finden und anschließend richtig zu kombinieren. Emile ist an der Front und will einen Brief an seine Tochter schreiben, hat aber weder Feder noch Tinte.

Auf dem Schreibtisch des Versorgungsoffiziers steht ein Tintenfass, der will dafür eine trockene, wärmende Socke. Der Spieler durchforstet die Schützengräben und findet einen schmutzigen Strumpf. Der muss jetzt erst noch gewaschen werden. Aber wo? Und wie kommt Emile in den Besitz einer Feder? Das gilt es zu lösen.

Puzzlen muss der Spieler auch: diverse Schalter aktivieren und mit Rampen, Brücken oder Kränen versperrte Levelabschnitte erreichen. Es gibt Rätsel-Passagen, in denen Rohr-Systeme neu zusammengesetzt werden müssen, etwa um Chlorgas umzulenken. Manchmal wird Valiant Hearts auch zum Stealth Game, dann huscht der Spieler von Busch zu Busch an Wachen vorbei. Fast immer begleitet ihn ein treuer Lazaretthund, der ebenfalls Schalter umlegt und durch kleine Hundetüren kriecht, um in den zweidimensionalen Spielabschnitten eine andere Eben zu erreichen.

Valiant Hearts ist auch eine begehbare Dokumention, ein Erinnerungsmedium. Im Menü kann der Spieler weitere Informationen und nachkolorierte Fotos zum Ersten Weltkrieg aufrufen. Man erfährt, dass Gasmasken besser funktionierten, wenn die Soldaten rasiert waren, weswegen die Amerikaner Rasierer im Gepäck hatten. Man lernt, dass allein auf deutscher Seite 8000 Soldaten damit beschäftigt waren, zwischen 1914 und 1918 etwa 28 Milliarden Briefe zu transportieren. In Valiant Hearts werden Spielinhalte und historische Fakten verbunden.

Lustig und moralisch zugleich

Die Handlung konfrontiert die Spieler konsequent mit den Grausamkeiten des Krieges: Soldaten fallen im Kampf, Verwundete geben schreckliche Laute von sich, die Leichen stapeln sich in den zerbombten Mondlandschaften der Westfront zu Bergen. Doch diese Szenen zeigen die Entwickler nicht aus Lust am Spektakel. Sie sollen zum Nachdenken anregen. Das Spiel hat ein pazifistisches Anliegen. Es soll vor dem Krieg warnen. Die allgegenwärtige Zeichentrickgrafik macht die gezeigten Kriegsgräuel nur noch eindrucksvoller.

Valiant Hearts hat aber auch klassische Computerspiel-Elemente: Es gibt einen überzeichneten Bösewicht und Kämpfe in überdimensionalen Panzern. Die Spielabschnitte, in denen Krankenschwester Anna in einem Auto – zum beschwingten Rhythmus klassischer Musik – vor feindlichen Fahrzeuge fliehen muss, sind großartig. Das Spiel ist lustig und moralisch zugleich. Ein Spagat, der in den seltensten Fällen gelingt. Im Gegensatz zu vielen Serious Games und Lernspielen, in denen die Didaktik den Spielspaß eher verhindert als unterfüttert, würde sich Valiant Hearts auch für den Geschichtsunterricht eignen. Etwa ergänzend zur aufschlussreichen, aber bedrückenden Remarque-Lektüre.

Erschienen auf süddeutsche.de