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„EyePet“ von Sony ist ganz furchtbar niedlich. Gleichzeitig ist es das Vorzeigeprojekt des Augmented Gaming. Doch ist das Haustier für die Playstation nur ein nettes Augmented-Reality-Feature für die Heimkonsole? Für den Mobilfunkmarkt könnte diese Technologie geradezu eine Umwälzung ankündigen.

Monchhichis, diese am Daumen nuckelnden Kuscheltiere aus Japan, fielen Mitte der 70er Jahre in westliche Kinderzimmer ein. Nun schicken sich ihre Wiedergänger an, den gleichen Weg zu beschreiten. ”EyePet“ sieht auf den ersten Blick ganz ähnlich aus mit seinen großen Augen und flauschigem Fell – irgendwo zwischen Äffchen- und Kindchenschema. Aus technologischer Sicht ist es viel fortschrittlicher als die flauschigen Püppchen: Es hüpft zwischen unseren Beinen umher, attackiert spielerisch unsere Finger, wenn wir mit ihnen auf dem Boden trommeln, lässt sich streicheln und fällt hin, wenn wir es mit der Hand sanft aus der Balance bringen.

Nur besitzt es keinen Körper zum Anfassen – es ist nicht da. Das ”EyePet“ existiert nur auf einem TV-Bildschirm. Auf ihm sehen wir, wie es über die Bodendielen tapst und jäh einem Bein ausweicht, das durch das Bild wischt. Es ist die Mischkalkulation zweier Welten, so brav wie ein Kindergottesdienst. Aber es zeigt auch auf, was in der Zukunft geht, wenn die Inhalte erwachsener werden.

Die ”Eye“-Serie

”EyePet“ ist nicht das erste Augmented Realiy Game in Sonys Portfolio. Schon das ”EyeToy“ aus dem Jahr 2003 vermengte eine Ansammlung von Partyspielen mit einem Handling, das mithilfe einer kleinen Kamera unsere Bewegungen in Steuerbefehle umwandelte. Viel mehr als ein Präsentationsmodul für das Kamera-Feature der zweiten Playstation-Generation kam dabei leider nicht herum. ”The Eye of Judgement“, ein rundenbasiertes animiertes Sammelkartenspiel, fasste die für die Playstation 3 verbesserte USB-Kamera ”Playstation Eye“ erstmals in einem ausgereifteren Spielprinzip ein.

Nun legt der japanische Elektronikriese nach, mit ”Inivizimals“ für die PSP und mit dem bereits vorgestellten ”EyePet“. Wie schon ”The Eye of Judgement“ zielen beide Spiele auf ein eher junges Publikum ab, wobei nicht einmal ganz klar ist, ob es sich beim ”EyePet“ wirklich um ein Spiel handelt. Sicher ist nur, dass die erweiterte Realität, die visuelle Einbeziehung unserer Alltagswelt in Videospielkonzepte, einen großen Reiz ausüben kann. Nicht nur für Kinder, denn Augmented Reality Gaming verhandelt auch das große Virtual-Reality-Versprechen von einer idealen Welt und spielerischer Ungebundenheit.

Was wäre, wenn man aus jedem Space einen Cyberspace machen könnte, ohne dass die realweltlichen Koordinaten verloren gingen? Es wäre nicht mehr ein ”World of Warcraft“, kein ”Surrogates“ und auch kein ”Neuromancer“, die noch mit haptischem Feedback arbeiten. Das funktioniert eigentlich schon jetzt ganz einfach, weil die Technologie dafür in nahezu jedem Mobiltelefon steckt. Mehr als ein Farbdisplay und eine Kamera sind dazu nicht nötig.

Unserer Realität würden ein paar Informationen hinzugefügt und der Kontrast zweier Welten verliere weiter an Trennschärfe. Die Wahllosigkeit unserer Wahrnehmung erhielte durch ein zusätzliches Regelwerk und den dazugehörigen Grafiken eine neue Würze. Aus dem Alltag entstünde die Kulisse für ein stets bereit stehendes Videospiel, das ohne Cybersuits, Handschuhe und riesenhafte Brillen-Dinger zugänglich gemacht würde: Die Bushaltestelle wird zur Tenniswand, das Parkhaus zum Dungeon und die Kuhweide zur Arena eines Multiplayer-Shooters. Ein Szenario, so spannend wie unheimlich.

Das Haustier-Derivat

Durch seinen Massen-Appeal ist “EyePet” das Vorzeigeprojekt des Augmented Gaming, doch für räumliche Ungebundenheit und spielerische Freiheit steht es nicht. Man bewirbt es vielmehr als virtuelles Haustier. In einem Werbeclip erzählt ein Kind, es wolle seine Eltern überzeugen, ihm ein “EyePet” zu kaufen, auf dass es lerne für ein echtes Haustier zu sorgen.

Und es wird wohl tatsächlich viele Eltern geben, die gewillt sind knapp 45 Euro für das Bundle mit Software und Kamera auszugeben. Aber nicht, um ihre Racker auf ein echtes Tierchen vorzubereiten, sondern weil das “EyePet” ein pflegeleichtes Derivat ist. Es bellt und haart nicht, hält keine Veterinärmediziner in Lohn und Brot. Die lehrreichen, aber auch unbequemen Lektionen junger Haustierbesitzer bleiben aus – als Simulation ist das ”EyePet“ somit nicht viel wert.

Seine Vorzüge spielt es auf anderer Seite konsequent aus: Es ist niedlich und unschuldig und erspart komplizierte Gespräche über Dinge wie Fortpflanzungstrieb (hat es nicht) und Tod (erleidet es nicht). Da ist es umso bemerkenswerter, dass man trotzdem immer wieder einen vermeintlichen Realismus auszumachen glaubt. Die Vielzahl der vorgesehenen Verhaltensmuster, die ausgereifte Animation und die Oberflächengestaltung des Programms sind Indiz für die dreijährige Entwicklungszeit, die es in Sonys hauseigenem Londoner Studio veranschlagt hat. Aber weiter als über das übliche Füttern, Streicheln, Spielen und Stylen gehen die Beschäftigungen dann doch nicht hinaus.

Der Faktor Mobilität

”Invizimals“ für die PSP zeigt eine Richtung auf, die für den AR-Markt wohl bedeutender sein wird, gerade auch wegen der zunehmenden Verbreitung von iPhones und Android-Handys. Entscheidend ist hier der Faktor Mobilität: Wird das ”EyePet“ noch fest vor dem Fernseher installiert und damit an einem Ort, der seit jeher mit Gaming verbunden ist, trägt man die ”Invizimals“ nun in die Welt hinaus. Der Gamer sammelt und trainiert Fabelwesen und lässt sie dann gegeneinander antreten.

Diese Wesen finden sich nicht in Pixelgebüschen wieder, sondern nahezu überall: Man muss nur die Augen offen halten, was in diesem Fall heißt, auf das Display der Playstation Portable zu schauen. Eine kleine Kamera, die auf das Handheld gesteckt wird, liefert die dazugehörigen Bilder. Farbige Flächen sind die bevorzugten Aufenthaltsorte der unsichtbaren Tiere, die PSP dient als Scanner und Falle.

Erinnert das ”EyePet“ in seinen Grundfunktionen an ein Tamagotchi, ist hier die Nähe zur beliebten Pokémon-Reihe unverkennbar. Beides sind erprobte Konzepte, die durch den AR-Zusatz gleichzeitig eine technologische Neuerung bieten und damit eine konsequente Weiterentwicklung. Auch für das Nintendo DSi, in dessen neuester Version schon zwei – allerdings wenig leistungsstarke – Kameras integriert sind, wird es in absehbarer Zukunft wohl AR-Games geben. Der noch zu erschließende Markt jedenfalls erscheint casual genug.

Wie Pilze aus dem Boden

Vor allem aber die Mobile Devices werden von AR-Games profitieren, mit oder ohne Telefonfunktion. So wie jetzt schon Applikationen für das iPhone aus dem Boden schießen, die mit dem Zugriff auf Datenbanken als Reiseleiter dienen und mit Hilfe von Qype die Muschelgerichte in Fischrestaurant bewerten, so werden in Zukunft auch massenhaft AR-Spiele im App Store erhältlich sein. Prototypen und Videodemonstrationen finden sich jedenfalls massenhaft im Netz.

Im Augmented Reality Shooter mit dem bezeichnenden Namen ”ARhrrrr“ navigieren wir uns wie ein Helikopter um das 3D-Modell einer Kleinstadt, deren Häuser etwa auf unserer Schreibtischplatte stehen. In den Straßen machen Zombies Jagd auf unschuldige Miniatur-Passanten, deren Rettung unsere Aufgabe ist. Wir können nun entweder die Zombies einzeln aufs Korn nehmen und abschießen – oder wir platzieren ein paar bunte Marken-Bonbons in den Straßen und warten auf eine sich nähernde Zombieschar. Visieren wir mit dem Fadenkreuz dann das Bonbon an, explodiert es und reißt die Untoten in Stücke. Eine AR-Zuckerbombe.

Urban Game

Verschiedene Firmen, ob sie nun Total Immersion und MXR Labs heißen, leisten schon seit vielen Jahren Vorarbeit für unterschiedliche AR-Technologien. Wobei es aber wieder Apple und Google sein werden, die sich die größten Stücke des Kuchens abschneiden werden. Damit hat sich der Berliner Michael Schuon schon seit langem abgefunden: Sein Kunst-Projekt ”Urban Game“ funktioniert nicht über ein HUD (Head-Up-Display) oder eine Kamera, sondern einen Beamer.

Es ist eine selbstgebastelte Mischung aus CPU-Einheit, Controller und Projektor, die der Spieler mit sich herumschleppt. Von einem Startpunkt ausgehend wird er durch einen urbanen Raum gelotst, wo an bestimmten Punkten wie Häuserwänden, Mauern oder dem Straßenpflaster von Schuon vorab Markierungen angebracht wurden. Daran arretiert der Spieler das vom Controller aus projizierte Bild und findet so das Design für ein Jump’n’Run-Level vorgegeben.

Unebenheiten und Löcher in Wänden werden von Schuon, der die Orte des Geschehens genauestens aufbereitet, in das Leveldesign einbezogen. Man lernt so auf spielerische Weise den urbanen Raum neu kennen. Im März 2010 wird ”Urban Game“ im Freien Museum Berlin zu sehen sein, ebenso werden sich zu diesem Zeitpunkt weitere Anwendungen kleinerer Entwickler angekündigt haben. So tönt es etwa auf der Website augmentedgaming: ”The future of games is here.“ Noch kann man sich nur für einen Newsletter registrieren – mehr passiert erstmal nicht. Gut möglich, dass sich das bald ändert.

Erschienen in: De:Bug Ausgabe 138