Ein Traum in Weiß
Vor zwei Jahren fuhr der Mainzer Jörn Ratering als Student nach Tansania – und wurde dort über Nacht zum Filmstar. Wie das ging? Soll er am besten selbst erzählen.
Ein Mann hatte ein Seil über die Straße gespannt, und das Motorradtaxi, in dem ich saß, musste halten. Irgendwo in einem Vorort von Daressalam, der Hauptstadt von Tansania. Zehn Schulmädchen in weißen Blusen und blauen Oberkleidern flatterten auf uns zu. Ich drückte mich tiefer in den Sitz, aber es war zu spät. Als sie mich entdeckten, quietschten sie meinen Namen. »Joooorn«, riefen sie, »Joooorn«. Sie umringten mich, fassten mir durchs Haar und zogen an meiner Haut. Ein Moment, der wohl jeden total überfordert, der kein Filmstar ist. Aber ich bin einer. Nicht in Deutschland, da kennt mich kein Mensch, da bin ich Jörn Ratering, Ethnologiestudent aus Mainz. Aber in Tansania bin ich Jörn Bleibtreu, und Mädchen kreischen bei meinem Anblick.
Daressalam
Es ist kein erhabener Anblick, wenn sich eine Stadt wie Daressalam vor einem auftut. Auftun ist schon das richtige Wort. Es ist ein Moloch mit knapp drei Millionen Einwohnern, aber natürlich sind es mehr, viel mehr, und nur drei oder vier asphaltierte Straßen führen hinein. Wir quetschten uns morgens um sechs in einen Van – eine Gruppe von Ethnologiestudenten, die im August 2009 für drei Monate Afrikaluft schnuppern durften. Wir waren total erschöpft vom Flug und der Hitze, wir sahen müde aus und rochen auch so. Unsere Dozentin Claudia Böhme und ihr Forschungsassistent fuhren uns vom Flughafen in die Stadt zu unseren Gastfamilien.
Im Autoradio lief Bongo Flava, eine Mischung aus Hip-Hop und Reggae auf Swahili. Zu beiden Seiten der Straße nichts als Fabrikgebäude und eingezäunte Metallsilos, und überall war Stau. Verkäufer gingen durch die Wagenreihen und reichten alles Mögliche in die Fahrzeuge, gegrillte Heuschrecken, Wasser in Tüten, Flip-Flops, Landkarten, Babyspielzeug. Und natürlich Bongo Movies, tansanische Filme, die hier vor Ort gedreht werden, die wenig kosten und auf den ersten Blick auch nach wenig aussehen, wie billige Seifenopern. Die Filme sind sehr beliebt in Tansania und werden wie am Fließband hergestellt. Das macht Tollywood, das Hollywood Ostafrikas, zum vielleicht größten Filmmarkt des Kontinents nach Nigeria. Die Verkäufer binden die DVD-Hüllen in Stapeln zu einem Meter zusammen und tragen sie durch die staubige Blechlawine. Ich dachte mir nur: Hier kannst du nicht lange überleben.
»Der ist perfekt, der Junge«
Meine Gastmutter hieß Lucy Komba, sie ist eine Art Filmstar in Tansania, jobbt aber noch zusätzlich als Sekretärin beim Hohen Gericht, denn das Filmbusiness wirft nicht so viel ab, wie man denken mag. Zwei Tage nach meiner Ankunft, ich hatte meinen Kulturschock noch nicht verdaut, besuchten mich Claudia und ein anderer Tansanier namens Ismael. Sie fragten, ob ich in einem Film mitspielen möchte. Für eine Produktion des bekannten Regisseurs Hammie Rajab werde noch ein Mzungu gesucht, ein Weißer. Manche behaupten, Mzungu komme vom Verb »kuzunga«, umherirren. Mzungu sind also Umherirrende. Ismael sprach kurz mit mir, dann stand für ihn fest: »Der ist perfekt, der Junge!«, und er brachte mich direkt zum Regisseur Hammie Rajab, der ebenfalls hier im Mwembe Chai, im Mangoteebaum-Viertel, wohnte. Als wir sein Haus betraten, zog er sich gerade die Hose an; Rajab, ein älterer Herr, hatte ein Nickerchen gemacht. Er schaute mich eindringlich an, und dann behauptete auch er – in einem wundervollen Englisch –, ich sei perfekt, und drückte mir ein Drehbuch in die Hand. Er wollte nicht einmal wissen, ob ich überhaupt spielen kann. »Lern das auswendig«, sagte er. »Übermorgen stelle ich dir die Crew von Tears on Valentine Day vor.« So hieß also mein erster Film.
Tears on Valentine Day
In dem Film spiele ich Johnson Leonard, den Anwalt aus Amerika. Meine Mandantin ist Joana, die Hauptfigur, eine junge Frau, die angeblich aus Notwehr ihrem ehemaligen Liebhaber eine Axt in den Rücken geschlagen hat. So viel zur Rahmenhandlung. Ehrlich gesagt, waren meine Erfahrungen als Schauspieler mickrig. Als wir in der achten Klasse im Englischkurs ein Theaterstück aufführten, ergatterte ich nur eine Minirolle. Aber weil alle hier meinten, ich sei perfekt, übte ich vor einem Handspiegel das seriöse Gesicht eines Anwalts. Meine erste Tollywood-Lektion lautete: Mach dich locker. Der Dreh sollte eine Woche dauern, aber meine Szenen wurden immer wieder verschoben, drei Wochen lang. Als es so weit war, hatte die Requisite mein Kostüm vergessen und musste in einem Geschäft einen weinroten Schlips und einen Anzug aus grobem grünem Stoff ausleihen. Ich sah aus wie ein Gebrauchtwagenhändler aus den Achtzigern. Hammie Rajab sagte aber: »I’d buy that«, ich kauf dir das ab. Wir hatten nur eine Kamera und wiederholten die Szene wieder und wieder. Ich verhaspelte mich ständig, dann hing ein Mikro im Bild oder der Hofhahn krähte. Rajab war total begeistert und bestand darauf, mir eine Gage von 30 000 Schilling zu zahlen, also etwa 15 Euro. Er sagte, es sei ihm wichtig.
Jörn Bleibtreu
Als ich nach meinem vollen Namen für den Abspann gefragt wurde, zögerte ich, denn eigentlich wollte ich anonym bleiben. Am Abend zuvor hatte ich den Film Lammbock gesehen, eine Kifferkomödie mit Moritz Bleibtreu. Deswegen gab ich mir kurzerhand einen neuen Namen: Jörn Bleibtreu. Dass es sich um einen Künstlernamen handelte, wusste keiner, denn keiner kannte hier das Original. Bleibtreu war auch leichter auszusprechen als mein echter Nachname Ratering. Wahrscheinlich bin ich hier bekannter als der echte Bleibtreu, wahrscheinlich bin ich hier sogar der echte Bleibtreu. Schon kurz nach dem Dreh bot mir meine Gastmutter Lucy eine Rolle in ihrem neuen Film Mehr als ein Freund an. Ich spielte mich selbst, den Studenten Jörn aus Deutschland, der nach Tansania kommt und in eine Liebesgeschichte verwickelt wird.
In nur drei Tagen wurde der Film abgedreht, und zwar auf Swahili. Dummerweise war mein Swahili damals nicht besonders gut. Einfache Sätze konnte ich schon bilden, Sätze wie »Die Mama soll Tatu ins Krankenhaus bringen«. Aber die Figur Jörn aus Deutschland war Teil einer Intrige und musste am Ende sogar den Moralapostel spielen. Da blieb es nicht bei Subjekt, Prädikat, Objekt. Ich habe mir an den Satzungetümen die Zähne ausgebissen und schließlich irgendetwas auf Deutsch gesagt. Das wurde untertitelt, fertig, die totale Improvisation. Afrikaveteranen haben dafür eine Art Sprichwort: »This is Africa« oder auch »T.I.A.«. Sie wollen dir sagen: Nimm es, wie es kommt. Es ist der Schlachtruf der Fatalisten. Und ich weiß jetzt, was sie damit meinen. Immerhin kam der Film schon kurz darauf auf den Markt. Das hat mir jedenfalls Lucy erzählt, als ich wieder zurück in Deutschland war. Und dass ständig Leute nach mir fragen würden.
2010: Fans auf Sansibar
Ein Jahr darauf flog ich wieder nach Tansania, machte aber zuerst auf der Insel Sansibar Station, um eine Freundin zu besuchen. Wir saßen in einem Café, als mich ein Mann ansprach. »Du bist Bongo-Movie-Darsteller«, sagte er, »ich habe Filme von dir gesehen.« Er nahm meine Hand. Er schüttelte sie nicht, er nahm sie und hielt sie fest. Dann meinte er: »Schön, dass du hier bist« und ging weiter. Bongo Movies sind auf Sansibar längst nicht so populär wie auf dem tansanischen Festland. Trotzdem wurde ich dreimal erkannt. Und auf der Fähre nach Daressalam waren es noch zwei Mädchen. Sie kannten meinen Namen, sprachen mich mit »Jorn« an und fragten, ob ich neue Filme plane und ob ich für sie nicht auch Rollen organisieren könne. Mein Ruhm eilte mir voraus. Ging ich nun durch Daressalam, blieben die Leute stehen, gaben mir die Hand, luden mich zum Essen und Kaffee ein. Oder sie stürmten mein Motorradtaxi.
Die dicke Polizistin
In unbekannten Vierteln, so wird Ausländern geraten, sollte ich mit dem Auto unterwegs sein, sobald die Dämmerung einsetzt. Und es dämmerte bereits, als ich an einem Septemberabend das Marktviertel Kariakoo verlassen wollte. Überall wuselten Menschen umher, und ich suchte verzweifelt ein Daladala, einen Minibus, der in das Mangoteebaum-Viertel fuhr. Ich blickte in die Menge und entdeckte eine olivgrüne Polizeiuniform, die sich über den Körper einer dicken Polizistin spannte. Ich fragte sie nach einem Bus. Die Polizistin lächelte breit und sagte: »Ich kenne dich. Ich habe gestern Mehr als ein Freund gesehen, der Film ist super.« Sie nahm mich bei der Hand und führte mich zum Daladala. Dort balgten sich die Passagiere um die letzten freien Sitzplätze. Weil ich mich weder prügeln noch zwei Stunden in einem engen Minibus stehen wollte, rief die dicke Polizistin – ich weiß leider nicht einmal mehr ihren Namen – einen befreundeten Taxifahrer an. Er nahm uns beide mit, denn sie hatte sich den Rest des Abends freigenommen. Ich saß auf der Rückbank und wurde mit Fragen bombardiert. Was ich für die Zukunft plane und ob ich ihnen eine Rolle vermitteln könne. Ich hatte zufällig den Film bei mir, den schenkte ich der Polizistin zum Abschied.
Ich sehe dich
Ich genoss die Aufmerksamkeit. Die Tansanier, die ich kennenlernte, waren sehr liebenswürdig zu mir. Gleichzeitig ist es auch ein komisches Gefühl, Fans zu haben. Es sind Menschen, die einen gar nicht kennen und trotzdem anhimmeln. Und das ist mir unangenehm. Nach meinem Auftritt bei der Comedysendung Orijino Komedi verstärkte sich das sogar noch. Die Sendung läuft im Staatsfernsehen TBC und ist ein echter Straßenfeger. Bereits während der Sendung klingelte mein Handy, und Freunde gratulierten mir. Die Tage darauf brachen alle Dämme, alle kannten mich, denn die TV-Show ist noch populärer als die Bongo Movies. Ich erhielt Heiratsanträge, mal mehr, mal weniger ernst gemeinte. Auf jeden Fall ernst gemeint haben es meine muslimischen Nachbarn. Ich war zum Fastenbrechen eingeladen. Während des Essens erhob sich plötzlich die Großmutter, zeigte auf ihre Enkelin Rahma und fragte mich, ob ich sie sähe. Ich sagte ja, denn sie saß mir gegenüber. Kurz herrschte Stille, dann jubelten alle. Da erst fiel bei mir der Groschen. Auf Swahili ist das Wort für »sehen« »kuona«, das Wort für »heiraten« lautet »kuoa«. Und ich hatte auf die Frage: »Willst du sie heiraten?« mit Ja beantwortet. Aber ich konnte das Missverständnis klären. Blickkontakt und Hochzeit waren nur ein »n« voneinander entfernt.
Wie Drei Engel für Charlie
Kurz vor meinem Abschied traf ich Ismael wieder, den Produzenten, der mir zu meiner ersten Rolle verholfen hatte. Er war gerade aus Zypern zurückgekehrt, wo er für ein halbes Jahr auf einem Schiff gearbeitet hatte. Nun wollte er mich für ein neues Bongo Movie rekrutieren, einen Actionfilm in englischer Sprache. »Du bist ein Diamantenhändler, ein Belgier namens Hans Klokker«, sagte er. Die Geschichte geht so: Drei Frauen verbarrikadieren sich in einem Haus und verteidigen einen Beutel Diamanten vor Diamantenräubern. »Wie in Drei Engel für Charlie, mir fehlen nur noch die Engel«, scherzte er. Er wollte meine Szenen im Kasten haben, bevor ich Afrika wieder verlasse. Also kaufte er mir einen Zylinder, und wir legten los.
Zu dieser Zeit fühlte ich mich schon wie ein richtiger Profi. Ich spielte so übertrieben wie möglich, das kommt am besten an. Auch auf Terminabsprachen habe ich mich nicht mehr verlassen. Das macht die Schauspielerei in Tansania viel entspannter. Inzwischen bin ich wieder in Deutschland und habe erfahren, dass jetzt auch die Engel vor der Kamera stehen. Sehen werde ich den Film aber wohl erst, wenn ich das nächste Mal in Afrika bin, um meine Freunde zu besuchen und ein weiteres Bongo Movie zu drehen. Wenn es mal wieder besonders kalt und grau ist in Deutschland. Und ich für eine Weile vom Studenten zum Star werden möchte.
erschienen in: SZ-Magazin, Ausgabe 22/2011