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Die Freiheit der Spieler
ist unantastbar

Kaum ein Spiel geht so progressiv mit Sexualität um wie das neue „Dragon Age“. Dabei geht es nicht nur um Toleranz, sondern auch darum, was Rollenspiele leisten sollten.

„Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich für eine Weile aus dem Internet verschwinden werde, dieser Wahnsinn kann einen ganz schön mitnehmen.“ Der Satz stammt aus dem Blog von David Gaider, dem Chef-Erzähler des gerade erschienenen Rollenspiels Dragon Age: Inquisition. Zuvor freute sich Gaider über die ersten, fast durchweg positiven Reaktionen der Fachpresse. Erleichterung schwang darin mit, schließlich haben er und seine Kollegen vier Jahre lang am dritten Teil der Reihe gearbeitet. Aber Gaider ist vorsichtig geworden. Er kennt die fanatischen Seiten der Spieler, die Mechanismen des Internets, den Wahnsinn, wie er es nennt.

Vor zwei Jahren zog der finale Akt von BioWares Science-Fiction-Trilogie Mass Effect mit seinem kontroversen Ende den Frust vieler Fans auf sich. Dragon Age 2 wiederum wurde von altgedienten Rollenspielfans verrissen. Durchaus diskussionswürdige Designentscheidungen sah man als Anbiederungen an den Massengeschmack, als Beleg, dass die Spielebranche den Bach runtergeht. Der allgemeine Konsens heute: Dragon Age 2 ist, obwohl finanziell erfolgreich und ausgestattet mit einem Kritiker-Metascore von immerhin 82 Punkten, nicht nur das schlechteste Bioware-Spiel aller Zeiten. Sondern ein schlechtes Spiel per se.

Dass David Gaider sich womöglich eine Internetauszeit nehmen wird, hat aber noch einen weiteren Grund. Die Veröffentlichung von Dragon Age: Inquisitionsteht angesichts der durch die GamerGate-Kontroverse vergifteten Atmosphäre im Netz unter besonderen Vorzeichen. Videospieler werden derzeit nicht als sonderlich tolerant wahrgenommen, nachdem zahlreiche Entwicklerinnen und Kritikerinnen attackiert und bedroht wurden. Und Rollenspiele aus dem Hause BioWare sind seit jeher inklusiv. Die ausgewogene Darstellung ethnischer und geschlechtlicher Vielfalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Werke des kanadischen Studios.

Starke Frauen, schwule Magier

So auch in Dragon Age: Inquisition. Die von Drachen, Blutmagiern und Dämonen bevölkerte Welt Thedas, in deren Ländern der ewige Kampf Gut gegen Böse – auch wenn es in Dragon Age ein wenig komplizierter ist – ausgefochten wird, ist bei Weitem kein friedvoller und konfliktfreier Ort. Sonst hätte der Spieler auch nicht viel zu tun. Überall gibt es politische Intrigen, soziale und religiöse Konflikte, die handfest ausgefochten werden wollen. Trotzdem, sagt Gaider, sei Thedas toleranter als die Welt, in der wir leben.

Da gibt es starke Frauen, wie etwa Cassandra, eine schwertschwingende, unkorrumpierbare Kriegerin. Oder Figuren mit dunkler Hautfarbe, die nicht als exotische Staffage dienen. Bi- und homosexuelle Charaktere werden nicht überzeichnet als Tunten oder Kampflesben dargestellt. Wenn die Spieler möchten, können sie ihre Spielfigur eine romantische Beziehung mit anderen Figuren führen lassen. Und ja, die Spielfigur kann auch Sex haben. Das ist optional und nicht besonders explizit, sondern in eher kitschigenmanchmal humoristischen Cutscenes inszeniert. Aber bekanntlich reicht ein bisschen nackte Haut aus, um gewisse Gemüter kochen zu lassen. Erst recht, wenn jene, die sich da ein Lager teilen, ansonsten nur Waffenbrüder sein dürfen.

In Dragon Age: Inquisition gibt es mit dem Magier Dorian und der Elfin Sera nämlich erstmals Figuren, die ausschließlich homosexuell sind. Bislang waren alle BioWare-Charaktere so angelegt, dass der Spieler ihnen eine Zeit lang Avancen machen konnte. Geschenke wurden überreicht, in ausgefeilten Dialogsituationen die richtigen Dinge gesagt, und dann klappte es irgendwann, egal welchen Geschlechts man war. In Mass Effect war es dadurch möglich, die Hauptfigur wahlweise als schwulen oder lesbischen Weltraumkapitän zu spielen. Etwas, das nicht alle Spieler guthießen. Aber etwas, das die Debatte um Homosexualität in Spielen neu entfachte.

Vorgefertigte Figuren widersprechen der Idee des Rollenspiels

Dorian ist von vornerein immun gegenüber weiblicher Aufmerksamkeit. Es gibt Stimmen, die BioWares Bemühen um sexuelle Gleichbehandlung als reinen Marketinggag abtun. Doch ist es wohl eher die Firmenkultur, die sich im Spiel wiederfindet. David Gaiden ist schwul, die Mehrheit der BioWare-Angestellten weiblich. Aber das tut nichts zur Sache. Denn prinzipiell verschließt das kleinkarierte Herumreiten auf der Frage, welche Figur im Spiel warum, wann und wie schwul oder lesbisch ist oder auch nicht, die Augen vor einem ganz fundamentalen Prinzip des Rollenspiels: der Freiheit des Spielers.

Im Gespräch mit ZEIT ONLINE sagte Cameron Lee, der leitende Entwickler des neuen Dragon Age: „Das Ausleben von Fantasien in einem Rollenspiel beinhaltet verschiedene Dinge. Welche Rasse, Klasse und welches Geschlecht du sein willst, wie du dich in der Welt verhalten möchtest. Auch die Sexualität ist eine Form des Auslebens von Fantasien. Wir wollen dem Spieler die Wahl ermöglichen, den Charakter so zu spielen, wie er es möchte, und nicht in eine vorgefertigte Figur hineindrängen. Ich denke, das ist sehr wichtig für ein Rollenspiel.“

Diese Auffassung spiegelt sich nicht nur in den Figuren wider, sondern auch in der Erzählung: In Dragon Age: Inquisition geht es um die Bedrohung durch einen anfangs noch unbekannten, äußeren Feind. Der Spieler muss als Anführer der Inquisition alle Völker und politischen Lager unter einem Banner vereinen. Nur wenn Templer und Magier, konkurrierende Adlige und Kirchenvertreter ihre Vorurteile überwinden und miteinander, anstatt gegeneinander kämpfen, kann dieser Feind besiegt werden.

Dragon Age: Inquisition führt deshalb das Credo jedes BioWare-Rollenspiels der letzten zehn Jahre weiter: Nicht geschlechtliche Vorlieben, sondern Toleranz im Allgemeinen ist die Botschaft. Müsste der Spieledesigner David Gaider deshalb seine Netzaktivitäten einstellen, es wäre ein Armutszeugnis.

Erschienen auf Zeit Online